Mythos Haar
Bei vielen alten Völkern war das Haar Symbol für die ganze Lebensfülle und Lebenskraft des Menschen. Durch die
Bedeutung des Haares als Sitz des Lebens ist es zu einem besonderen Symbolträger geworden. Ihm gilt die ganze
Pflege und Aufmerksamkeit des Menschen, der sich durch sein Haar repräsentiert sieht. Wenn es ausfällt, fühlt er
seine Lebenskraft durch Alter und Krankheit bedroht; wer beim Schopfe ergriffen wird, verliert seine Lebenskraft und
wird unfrei. Der freiwillige Verlust des Haares ist bei vielen Völkern - von den Ägyptern bis zu den Indianern - eine Art
von Hin- und Selbstaufgabe. Die Haare als Sitz der Lebenskraft - dieser Mythos hat eine lange Tradition. Am
bekanntesten ist dabei wohl die Geschichte von Samson: solange der Held sein Haar trägt, ist er mächtig und stark,
der Verlust des Haares bringt ihm dagegen schnell Schwäche und Sklaverei ein. Erst als sein Kopfschmuck wieder zu
wachsen beginnt, gewinnt Samson seine alte Kraft und Macht zurück. Kahlköpfigkeit, weißes Haar und Haarausfall
wurden daher im Laufe der Geschichte oft negativ bewertet. Kein Wunder, dass alles darangesetzt wurde, diese
sichtbaren Zeichen des Alterns oder von Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes zu übertünchen. Haaropfer an die
Götter lieferten - und liefern auch heute noch - die Opferbereiten uneingeschränkt der göttlichen Macht aus: um sich
vor dem Einfluss des Bösen zu schützen, übergibt der Mensch seine Haare, d.h. einen Teil von sich, als Symbol des
Ganzen. Dies geschieht z.B. bei der Geburt, der Geschlechtsreife und der Hochzeit - in Momenten also, in denen der
Mensch durch den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen nach antiker Vorstellung ungeschützt und
anfällig gegen Angriffe und Schädigungen feindlicher Mächte ist. So wird vielerorts das Haar von getauften Kindern
geschnitten und als Zeichen der Weihe auf den Altar gelegt. Das gleiche gilt übrigens auch mit dem Haar der Mönche
bei der Tonsur.
Kleine Haarpsychologie
Neben der Fähigkeit, Milch zu produzieren, sind die Haare das wichtigste Charakteristikum der Säugetiere. Ihre
eigentlichen physiologischen Funktionen haben sie jedoch längst verloren. Dazu gehört z.B. die Regulierung der
Körpertemperatur. Haare isolieren den Körper am wirkungsvollsten: ein Zentimeter Fell wärmt ungefähr genauso gut
wie eine vier Zentimeter dicke
Fettschicht. Haare dienen aber auch als Zeichen für Verteidigungsbereitschaft oder Angriffsabsicht: wenn wir Angst
haben oder frieren, stellt sich unser Haar auf. Bei Katzen ist dies allerdings viel eindrucksvoller, wenn sie sich mit
gekrümmtem Rücken, aufgestelltem Fell und buschigem Schweif grösser und imponierender erscheinen lassen.Haare
wachsen übrigens pro Monat einen Zentimeter. Ein Zwanzigjähriger hat ca. 150.000 Haare auf dem Kopf (wenn sie
blond sind. Schwarzhaarige haben ca. 110.000 und Rothaarige nur ca. 85.000). Und: Haar ist eine Form der Haut: wie
Fingernägel sind Haare tote Auswüchse der obersten Hautschicht. Sie bestehen aus Keratin, Wasser (35 %), öligen
Fetten (5 %) und dem Pigment Melanin (bis zu 2 % - abhängig von der Farbe).
Die Naturhaarfarben verteilen sich in Deutschland unterschiedlich auf den Köpfen: 2 % der Deutschen zwischen 16
und 60 sind schwarzhaarig, 4 % rothaarig, 6 % grauhaarig, 14 % blond und 74 % brünett. Verfolgt man diese
Verteilung über einen längeren Zeitraum, fällt auf, dass blondes Haar immer seltener wird. Das liegt in erster Linie
daran, dass wir immer internationaler werden und uns immer mehr mit anderen Kulturen vermischen. Durch diese
friedliche Völkerwanderung verschwinden die Blonden immer mehr, denn das Erbmerkmal dunkles Haar ist stärker als
das Merkmal blondes Haar. Das bedeutet: das Kind eines blonden und eines dunklen Elternteils wird in der Regel
dunkelhaarig. Dies zeigt sich z.B. in Untersuchungen in England: wo vor 60 Jahren noch 65 % der Bevölkerung blond
waren, ist es heute nur noch jeder zehnte Inselbewohner.
Apropos blond: was die Präferenzen speziell der deutschen Männer betrifft, haben Umfragen ergeben, dass 38 %
Blondinen am attraktivsten finden. Bei 21 % der Männer haben Rothaarige und bei 20 % Schwarzhaarige die besten
Chancen. Bleibt die Frage, warum Männer Blondinen bevorzugen? "Engel sind eben blond", wie G.B. Shaw
feststellte. Sie erinnern an Jugend, Unschuld und - sind einfach seltener. Dazu kommt, dass viele Schönheitsidole
blond sind (obwohl viele von ihnen nicht unbedingt eine blonde Naturhaarfarbe haben): von Marilyn Monroe über
Brigitte Bardot bis Sharon Stone. Blond, das ist ganz einfach die gelungene und auch gelernte Synthese von
Unschuld und Verführung.
Ein italienisches Sprichwort sagt zu Rothaarigen: "Wer rothaarige Frauen liebt, spielt mit dem Feuer." Oft galten
Rothaarige als seltsame, unheimliche Wesen, bis zum 19. Jahrhundert vielfach sogar als Hexinnen oder Teufelinnen.
Der Schriftsteller Hans Bernhard Schütt meint in seinem Buch Die Rothaarigen: "Wenn man rothaarige Frauen schon
nicht als Hexen verbrennen kann, dann besteht man darauf, dass sie als großartige Kurtisanen die Männer bannen
und verderben." Die moderne Sexualwissenschaft hat übrigens keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass rothaarige
Frauen wirklich leidenschaftlicher sind als blonde, brünette oder schwarzhaarige. Sie produzieren nicht mehr
Sexualhormone als andere Menschen, und die Sexualhormone sind nun einmal für das sexuelle Temperament eines
Menschen verantwortlich.
Haare und Frisur haben heute zwei wesentliche Funktionen:
* Die Signalfunktion:
Haare signalisieren,
ob man modisch up-to-date ist,
den sozialen Rang
und welcher Bezugsgruppe man sich in der Gesellschaft psychologisch
am nächsten fühlt.
Dies alles bringt man durch deutlich sichtbare Zeichen zum Ausdruck:
die Frisur, die Farbe und Länge der Haare.
* Individuelles Identitäts- und Persönlichkeitsmerkmal:
Zur Veränderung ihrer Frisur entschliessen sich Frauen sehr häufig dann, wenn sie sich in einer Phase der
Veränderung, der Neubestimmung ihrer Identität oder - beruflich oder privat - auf dem Weg zu einem neuen
Lebensabschnitt befinden. Dazu eine aktuelle Zahl aus den USA: 65 % aller Frauen über 25 Jahre, die vorgeben, sich
in einer momentanen Gefühlskrise zu befinden (z.B. der Trennung von einem Partner), lassen sich die Haare kurz
schneiden (wie in der Mythologie!). Die 16 - 24-jährigen, die noch stärker auf der Suche nach ihrem Typ und ihrer
Identität sind, wechseln ihre Frisur bis zu zwanzigmal im Jahr ( wenn auch oft aus modischen Gründen). Die
Frisurenvielfalt ist übrigens auch ein Zeichen der Liberalität einer Gesellschaft: in Gesellschaften, die streng
hierarchisch organisiert sind und die auf die deutlich nachvollziehbare
Einhaltung von sozialen Gruppenzugehörigkeiten Wert legen, gibt es einige wenige Standardfrisuren pro Geschlecht,
die häufig über Jahrzehnte Bestand haben.Wenn Frauen sich zu einer wirklich neuen Frisur entscheiden, kann das
heissen, dass Veränderungen des Äusseren Umwälzungen im Inneren signalisieren oder die Vorboten für eine innere
Veränderung, eine wichtige Neuentscheidung im Leben sind. Die neue Frisur wird zum Ausdruck oder Medium für die
'neue' Persönlichkeit und Identität. Kommt diese neue Frisur dann auch noch bei den wichtigsten Bezugspersonen
positiv an und bekommt man dafür Anerkennung und Komplimente, so hat die Frisur damit einen wichtigen
selbstverstärkenden Effekt für die innere Veränderung. Die Haare sind dabei der einzige Teil am Körper, der sich von
Zeit zu Zeit so verändern lässt, dass sich der Persönlichkeitstypus nachhaltig wandelt.
Zwar ist die Gesichtshaut (lediglich 5 % der gesamten menschlichen Hautoberfläche) der Teil des Menschen, der am
direktesten eine Art Sofortpsychogramm vermittelt, das Schminken des Gesichts kann die äusserliche Erscheinung
jedoch nicht so einschneidend verändern wie eine Frisur. So schliesst sich der Kreis zur Mythologie: Haare (und
speziell eine neue Frisur) können zum Symbol einer neuen Lebenskraft und Lebensfülle werden. Ein guter Friseur
sollte bei seiner individuellen Beratung solche persönlichen Veränderungsprozesse nicht ausser acht lassen. Für den
Friseur, der sich vom professionellen Handwerker und Künstler unterscheidet, ist deshalb die persönliche
Lebenssituation der Kundin zu erspüren oder zu erfragen, die Entwicklung der Änderungswünsche zu
berücksichtigen, um so äussere Form (= Frisur) und inneren Zustand (= Identität) zum Einklang zu bringen. Erst dann
- und nur dann - kann der Friseur zum Helfer und Begleiter auf dem Weg zu einem neuen Typ, zu einer neuen
Persönlichkeit werden.